Die Tätowierung

Gestern lag ich im Liegestuhl am Schwimmbecken hinter dem Hotel Méditerranée und genoss die Sonne und den blauen Himmel. Steile Felsen, mit Kakteen bewachsen, ragten bis zur Kapelle der Maria de Rocca auf. Eine Mauer aus Natursteinen und Klinkerbruch stützte den Schwimmbeckenbereich gegen den Berg ab. An dieser Mauer bewegte sich etwas: Eine kleine Eidechse schlängelte sich von Stein zu Stein, kurz innehaltend und dann wieder weiter, bis sie hinter der Mauer verschwand.

Heute habe ich einen Liegestuhl auf der Bergseite ausgewählt, da hier die Luft ruhiger ist und die Stützmauer am späten Nachmittag zusätzliche Wärme ausstrahlt. "Schauen Sie her! Was ist denn das?", ruft mir Frau Gehlen zu, die zum Beckenrand geschwommen ist und sich daran festhält.

Wie versteinert haftet eine junge Eidechse, etwa fünf Zentimeter lang, an der Beckenwand, knapp über dem schaukelnden Wasser. Sie ist ganz nass und die Nässe hat ihre Farbe abgedunkelt. Vielleicht ist sie in das Schwimmbecken gefallen und konnte sich gerade noch aus der Ablaufrinne retten.

Vielleicht brennen ihre Augen vom Chlorwasser. Oder sie ist von der Kälte des Wassers so bewegungslos und wartet jetzt, bis ihr Kaltblütlerblut von den Sonnenstrahlen aufgeheizt ist.

Frau Gehlen tippt mit dem Finger an den Kopf der Eidechse. Da kommt Leben in das kleine Tier. Sie fällt aber sofort wieder ins Wasser und rettet sich auf den angebotenen Zeigefinger.

Von dort nehme ich sie in meine Hände. Die Eidechse will aber nicht gefangen sein in der Höhlung meiner Hände. Schnell schlüpft sie heraus und krabbelt zu meinem linken Unterarm. Hier erstarrt sie wieder, festgekrallt auf meiner Haut zwischen den Haaren. Wie eine Tätowierung hält sie in einer s-förmigen Haltung still. Nur ihr Brustkorb dehnt und entspannt sich in regelmäßigem Rhythmus, aber das sehen die anderen nicht. Für sie muß es wie eine Tätowierung aussehen.

Feucht und kalt spüre ich das kleine Tier. Die feinen Krallen zupfen an meiner Haut. Ich gehe zurück zu meinem Liegestuhl, zeige meine "Tätowierung" im Vorbeigehen den anderen Gästen und greife nach meinem Buch. Was macht die Eidechse? Sie haftet unverrückbar an meinem Unterarm und bewegt nur gelegentlich den Kopf hin und her.

So saß sie vielleicht zehn Minuten und ließ sich nicht stören. Als ich selbst ins Schwimmbecken gehen will, schiebe ich sie auf den Betonfuß meines Sonnenschirms. Da huscht sie weg und verschwindet in einem Spalt der Stützmauer.

Ulrich Ludwig